Bundesregierung

 
 
 

Interview von Bundeskanzler Schröder mit der tschechischen Tageszeitung Hospodarske noviny

 
Mo, 04.10.2004

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben neulich - gemeinsam mit dem polnischen Premierminister Marek Belka - verkündet, Deutschland werde die "rechtsgrund­losen individuellen Ansprüche" der aus Polen vertriebenen Deutschen vor allen Gerichten zurückweisen. Die tschechischen Abgeordneten haben zwar, im Gegensatz zu den polnischen, keine Reparationsforderungen gestellt, in Strassburg wird jedoch von Seiten der Sudetendeutschen auch der tschechische Staat verklagt. Gilt denn für Tschechien das Gleiche wie für Polen?

Antwort Bundeskanzler Schröder: Ministerpräsident Belka und ich haben die gemeinsame Haltung der deutschen und polnischen Regierung bekräftigt, dass es keinen Raum mehr für Restitutionsansprüche aus Deutschland gibt und derartige Ansprüche rechtlich grundlos sind. Ferner haben wir festgestellt, dass es weder rechtlich noch politisch Raum für Reparationsforderungen gibt. Die Bundesregierung wird deshalb individuelle Klagen auf  Entschädigung in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg vor nationalen oder europäischen Gerichten nicht unterstützen. Das gilt selbstverständlich auch für Tschechien. Im übrigen haben wir schon vor fünf Jahren gemeinsam festgestellt, dass Deutschland und Tschechien weder heute noch in Zukunft Vermögensfragen in diesem Zusammenhang aufwerfen werden. Wir wollen unsere Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten, sondern auf die Zukunft ausrichten.

Sie wollen ein gemeinsames deutsch-polnisches Expertenteam zur Abwehr der Klagen schaffen. Werden auch tschechische Experten eingebunden und wann wird die Kommission ihre Arbeit aufnehmen?

In der Tat haben wir unabhängige Rechtsexperten beauftragt. Es geht darum, in welcher Weise die deutsche und die polnische Regierung ihre gemeinsame Position in dieser Frage im Falle von Prozessen vor nationalen oder europäischen Gerichten zum Ausdruck bringen können. Es handelt sich hierbei um eine deutsch-polnische Vereinbarung. Ich denke, wir sollten die Experten in diesem Rahmen erst einmal mit ihrer Arbeit beginnen lassen.

Seit dem 1. Mai 2004 gibt es ein neues Spielfeld, wo Tschechen und Deutsche aufeinanderstoßen: die Europäische Union. So unterstützt Prag z. B. das Aufstocken des EU-Hauhaltes für 2007 bis 2013, Berlin ist dagegen. Was ist Ihr Ziel, mit welchem Verhandlungsergebnis würden Sie sich zufrieden geben?

Wir haben zusammen mit fünf weiteren Staaten vorgeschlagen, den EU-Finanzrahmen bis 2013 mit einem Ausgabenvolumen von maximal 1 Prozent des EU-Bruttonationaleinkommens auszustatten. Dies ermöglicht der Europäischen Union jährliche Ausgabensteigerungen von 4 ½ Prozent. Das liegt weit über den Möglichkeiten vieler nationaler Haushalte. Wir erreichen damit zwei Dinge: Zum einen bleibt die finanzielle Handlungsfähigkeit der Europäischen Union gesichert. Und zum anderen wird auch eine ökonomisch kontraproduktive Überlastung der Nettozahler verhindert. Der Kommissionsvorschlag dagegen würde die Haushalte der Nettozahler in unzumutbarer Weise belasten.

Das Geld, was die Bundesrepublik in die gemeinsame europäische Kasse einzahlt, kommt nicht nur den wirtschaftlich schwachen Regionen in den neuen EU-Mitgliedsstaaten zugute. Profitieren werden weiterhin auch die ostdeutschen Bundesländer. Sie beharren sogar darauf, auch nach 2006 die höchstmögliche Förderung aus den EU-Strukturfonds zu bekommen. Von der Logik her müsste also die EU ihre Ausgaben doch erhöhen ...

... was trotzdem nicht logisch ist! Wir fordern, dass Strukturhilfen auf die ärmsten Regionen Europas konzentriert werden. Vergleichbare Regionen sollen also gleich behandelt werden, wenn sie die Förderkriterien erfüllen. Das können dann auch Regionen in den alten Mitgliedstaaten sein. Der Großteil der Mittel soll aber in die neuen Mitgliedstaaten fließen. Jetzt müssen die Mitgliedstaaten, die bislang Solidarität von Europa empfangen haben, zeigen, dass sie ihrerseits zur Solidarität gegenüber den neuen Mitgliedstaaten fähig sind. Was die Finanzierung betrifft: Sie soll zu einem großen Teil durch Ausgabenumschichtung erfolgen. Im Übrigen werden wir trotz der Strukturhilfen für Ostdeutschland weiterhin der größte Nettozahler bleiben.

Wird die Bundesregierung die Aufnahme der Beitrittgespräche mit der Türkei unterstützen?

Wenn die Europäische Kommission den Beginn solcher Verhandlungen empfiehlt und damit bestätigt, dass die Türkei die Bedingungen - die Einhaltung der politischen Kopenhagener Kriterien - erfüllt, werde ich dies nachdrücklich unterstützen. Das ist eine Frage der Glaub­würdigkeit gegenüber einem Partner, dem wir bereits vor 40 Jahren eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt haben und der in den vergangenen beiden Jahren beachtliche Reformfortschritte gemacht hat. Es liegt aber vor allem in unserem eigenen wirtschaftlichen und sicherheits­politischem Interesse. Denn dieser Weg würde deutlich machen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und wirtschaftliche Dynamik einhergehen können mit einem modernen, aufgeklärten Islam. Klar ist jedoch auch: Beitrittsverhandlungen werden lange dauern und die Türkei wird ihren Reformweg konsequent weitergehen müssen.

Der türkische EU-Beitritt ist nicht die einzige Herausforderung, die Europa zu bewältigen hat. Die andere heißt europäische Verfassung. Wie wird sie in Deutschland in Kraft gesetzt? Ist eine Volksentscheidung in der Bundesrepublik überhaupt möglich? Und wenn ja, würden Sie sie befürworten?

Antwort: Ich wünsche mir, dass Deutschland mit gutem Beispiel vorangeht und zu den ersten gehört, die die Verfassung ratifizieren. Dies wäre ein wichtiges politisches Signal, das von Deutschland als größtem Mitgliedstaat der Union ausgehen würde. Die Bundesregierung wird die - nach geltender Rechtslage einzig mögliche - parlamentarische Ratifikation nach der Unterzeichnung der Europäischen Verfassung am 29. Oktober in Rom umgehend einleiten. Unabhängig davon verfolgen wir schon länger das Ziel, die Instrumente der direkten Demokratie auch auf Bundesebene einzuführen. Dies ist allerdings aufgrund der erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten sehr schwierig. Von einer Einzelfallregelung nur für ein Referendum über die Europäische Verfassung halte ich hingegen nichts.

Deutschland ist nach wie vor die größte Volkswirtschaft in der EU. Deswegen ist es auch für die Nachbarstaaten wie Tschechien wichtig, dass sie wettbewerbsfähig bleibt. Was wollen Sie dafür tun?

Um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft mache ich mir keine Sorgen. Wir sind wieder Exportweltmeister geworden. Wir müssen uns jedoch auf die Herausforderungen einstellen, denen wir uns angesichts der Globalisierung und der demografischen Entwicklung gegenüber sehen. Das gilt übrigens nicht nur für Deutschland, sondern für alle Industrienationen. Darum haben wir unter dem Namen "Agenda 2010" tief greifende Reformen in den sozialen Sicherungs­systemen und auf dem Arbeitsmarkt umgesetzt, damit der Sozialstaat dauerhaft leistungs­fähig und bezahlbar bleibt und die Lohnnebenkosten sinken. Wir flankieren diese Reformen mit umfangreichen Steuerentlastungen und einer Innovationsoffensive, um die Leistungskraft unseres Sozialstaats und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft zu sichern.